Fri, 26 April 2024

Memories of Warsaw Ghetto Uprising 1943

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Marek Edelman und das Warschauer Ghetto: “Nicht mit gesenktem Kopf sterben”

Vor 80 Jahren begann der Aufstand jüdischer Kämpfer gegen SS-Truppen im Warschauer Ghetto. Erinnerungen an den Ex-Kommandeur Marek Edelman, der damals zu den wenigen Überlebenden gehörte.
Otmar Lahodynsky, Die Furche 12.04.2023

Es waren einige Hundert Kämpfer der „Żydowska Organizacja Bojowa“ (ŻOB), wie sich die Jüdische Kampforganisation nannte. Sie hatte den Widerstand gegen die NS-Truppen organisiert ‒ mit Bunkern, Waffenverstecken und Hinterhalten. Bereits im Jänner 1943 hatten die Kämpfer den Abtransport von Ghettobewohnern in NS-Mordlager durch bewaffnete Aktionen aufgehalten. Durch Kontakte zur polnischen Untergrundarmee Armia Krajowa gelangten die Kämpfer in den Besitz von Waffen, hauptsächlich Gewehren, Pistolen und Sprengstoff.

Deshalb waren im April 2000 Mann der SS sowie Polizisten unter dem Kommando von SS-Brigadeführer und Polizeigeneral Jürgen Stroop für eine für nur drei Tage anberaumte Räumung ins Ghetto eingedrungen. Stroop wollte Adolf Hitler mit der Liquidierung der letzten Überreste des jüdischen Viertels ein Geburtstagsgeschenk machen. Doch er stieß auf unerwarteten Widerstand. Unter dem Kommando des 21-jährigen Fischhändlersohns Mordechaj Anielewicz lieferten die jüdischen Kämpfer den deutschen Truppen einen erbitterten Häuserkampf.

Mit wenigen Waffen

Im Zuge der wochenlangen Kampfhandlungen brannten SS-Truppen systematisch alle Häuserblocks des Ghettos nieder. Gegen die Übermacht der Deutschen, die von Artillerie und Panzern unterstützt wurden, hatten die ŻOB-Kämpfer schließlich keine Chance. Aber es dauerte vier Wochen, bis zum 16. Mai, bis das Ghetto vollständig zerstört war. An diesem Tag demolierte die SS als symbolische Aktion die große Synagoge im Ghetto. Über 50.000 Ghettobewohner und Widerstandskämpfer waren bei den wochenlangen Kämpfen getötet oder in NS-Mordlager abtransportiert worden. Stroop telegrafierte an seine Vorgesetzten triumphierend: „Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschau besteht nicht mehr.“

SS-Brigadeführer Jürgen Stroop wollte Hitler mit der Liquidierung der letzten Überreste des jüdischen Viertels ein Geburtstagsgeschenk machen. Doch er stieß auf unerwarteten Widerstand.

Marek Edelman - © Foto: imago / Eastnews

Marek Edelman

Der ehemalige jüdische Widerstandskämpfer war nach 1945 ein bekannter sozialer Aktivist. 1998 wurde der Kardiologe und Politiker mit dem Orden des Weißen Adlers, dem höchsten Ehrenzeichen Polens, ausgezeichnet. Er verstarb am 2. Oktober 2009 im Alter von 90 Jahren.

Nur wenige jüdische Kämpfer überlebten, indem sie durch die Kanalisation aus dem Ghetto flüchten konnten. Einer von ihnen war der damals 23-jährige Marek Edelman, der als Spitalsbote im Ghetto arbeitete. Als Held habe er sich nie gefühlt, erklärte er 1988 beim Interview mit dem Autor dieses Artikels. „Es ging damals darum, sich nicht abschlachten zu lassen. Wichtig war doch nur, zu schießen. Das musste man zeigen. Nicht den Deutschen, die konnten das besser, aber der übrigen, nicht-deutschen Welt mussten wir das zeigen.“

Ihr Kampf war auch der Versuch, anders zu sterben, als es die NS-Massenmörder geplant hätten, meinte er. „Nicht mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen, sondern mit erhobenem Kopf und dem Willen, in Freiheit und Würde zu leben.“ Als Bote des Ghettospitals hatte Edelman zuvor miterlebt, wie die NS-Besatzer ab 1940 zunächst eine halbe Million Juden in Warschau ins Ghetto pferchten und von dort nach und nach mit Zügen in die Todeslager transportierten. Dass dies lange reibungslos ablief, lag auch an der perfiden NS-Propaganda: Im Juli 1942 verkündeten Plakate den halbverhungerten Ghettobewohnern, dass jeder Freiwillige zur Aussiedlung in angebliche Arbeitslager drei Kilogramm Brot und ein Kilo Marmelade erhalten würde. Wozu sollte man Brot verteilen, wenn man sie umbringen wollte, sahen viele die Berichte über Gaskammern widerlegt. Edelman erinnert sich: „Der Hunger verhüllte alles mit dem Gedanken an drei braune, frischgebackene Brotlaibe.“

Vom Umschlagplatz, an dem die Todeszüge abfuhren, holte Edelman für den Widerstand wichtige Personen aus den Kolonnen, um sie ins Spital zu bringen. Denn die SS transportierte lange keine Kranken, um den Anschein einer Fahrt in Arbeitslager zu wahren. Dass er so Todgeweihte fürs Erste retten konnte, habe ihn nach dem Krieg zum Medizinstudium bewogen, erklärte Edelman. Der jüdische Kommandeur führte 40 Mann auf dem Gelände der Bürstenfabrik an. „Die Menschen haben immer gemeint, das Schießen sei das größte Heldentum“, meinte er. „Da haben wir eben geschossen“ ‒ mit den wenigen Waffen, die von der „arischen Seite“ eingeschmuggelt werden konnten. Und die Widerstandskämpfer hatten Angst, draußen, jenseits der Mauer, könnte man von ihrem Kampf nichts bemerken. „Wir sahen ein Karussell und die Leute; wir hörten Musik und hatten schreckliche Angst, die Musik könnte uns übertönen“, so Edelman.

Am 8. Mai 1943 entdeckten die Deutschen den Bunker, in dem sich Mordechaj Anielewicz mit seinem Stab verschanzt hielt. Vor dem Eindringen der SS begingen alle Selbstmord. Edelman und einigen anderen Ghetto­kämpfern gelang die Flucht aus den brennenden Ruinen durch die Abwasserkanäle.

Das Kriegsende ließ bei ihm keine Siegesstimmung aufkommen. Er studierte Medizin und wurde später Kardiologe in Łódź. Nach der Ausschaltung der polnischen sozialistischen Partei 1948 durch die Kommunisten verlor Marek Edelman seine politische Heimat, die er erst nach 1980 in der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarität“ wiederfand. Nach Verhängung des Kriegsrechts durch General Wojciech Jaruzelski im Dezember 1981 wurde Edelman interniert. Später boykottierte er die vom KP-Regime organisierten Gedenkfeiern zum 40. und 45. Jahrestag des Ghettoaufstands. Vom philosemitischen Kurs der damals regierenden polnischen Regierung hielt Edelman wenig. „Es ist leicht, jemanden zu lieben, der nicht mehr da ist“, spottete er.

Lebenslange Aufgabe

Die Polen seien aber nicht antisemitischer als andere Völker gewesen. In Warschau seien trotz drohender Todesstrafe immerhin 12.000 Juden von Polen vor den Nazis versteckt worden. „Jeder zehnte Pole war in irgendeiner Form an der Hilfe für Juden beteiligt“, meinte Edelman. „Das ist kein schlechtes Verhältnis.“

Mit den Deutschen sollten die nach 1945 herrschenden polnischen KP-Machthaber leichter zurande kommen. Jürgen Stroop wurde nach seiner Verurteilung beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess an Polen ausgeliefert und 1952 nach einem weiteren Todesurteil hingerichtet. Die Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt führte Anfang der 1970er Jahre zu einer Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen. Beim Besuch in Warschau kniete Brandt vor dem Denkmal für den Ghettoaufstand nieder. Das Foto davon ging um die Welt.

Edelman lehnte Jobangebote westlicher Kliniken ab und blieb in Polen – auch dann, als seine Frau und Kinder in den Westen übersiedelten. Warum er im Land geblieben sei? „Irgendwer muss sich doch um die Angelegenheit hier kümmern“, sagte er 1988 mit leiser Stimme beim Interview in seinem bescheidenen Haus in Łódź. „Irgendwie bin ich es meinen toten Kameraden und all jenen, die hier unten begraben liegen, schuldig, dazubleiben.“ Er verstarb am 2. Oktober 2009 im Alter von 90 Jahren.

Der Autor ist Ehrenpräsident der „Association of European Journalists“ (AEJ) und ehemaliger Redakteur des Nachrichtenmagazins Profil.

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